Die französischsprachigen Literaturen Kanadas Literaturen Amerikas

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Essay

Von Hans-Jürgen Lüsebrink

Widersprüche und Gegensätze – Liberalismus versus Rechtskatholizismus

Die Entwicklung der frankokanadischen Literaturen im Jahrhundert zwischen der Gründung der kanadischen Konföderation (1867) und der Révolution Tranquille (Stillen Revolution) in Québec in den 1960er Jahren war von grundlegenden Widersprüchen und Gegensätzen geprägt, die die frankokanadische Gesellschaft durchzogen: dem Gegensatz zwischen dem konservativ-katholischen, vor allem ländlichen Québec und den liberalen, zum Teil laizistisch geprägten sozialen Milieus, die mit der zunehmenden Urbanisierung und Industrialisierung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einen kontinuierlichen Aufschwung nahmen; dem Widerspruch zwischen einem offenen, kosmopolitisch geprägten Nationenverständnis und einer geschlossenen, sich gegenüber fremden Einflüssen abschottenden Nationenkonzeption. Obwohl beide Strömungen auf einem ausgeprägten frankokanadischen Nationalbewusstsein beruhten und die französische Sprache und Kultur verteidigten, lassen sich auch im literarischen Bereich grundlegende, ideologisch geformte Unterschiede erkennen. So hob sich etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die von katholischen Werten und traditionellen Formen geprägte Poesie von Octave Crémazie (1827–79), dessen Werk auch den deutlichen Einfluss der französischen Romantik zeigt, und des Abbé Casgrain („Légendes canadiennes“, 1861) scharf ab vom poetischen Werk von Louis-Honoré Fréchette, der sich u.a. in seinem Gedichtzyklus „La légende dʼun peuple“ (Die Legende eines Volkes, 1877) deutlich an seinem großen ...